ZIMT ist Zuhause

Evin Baro

Evin Baro (36), aus Syrien, Kindergartenhelferin, in Österreich seit 2016

Stell dir vor, du bist 29 Jahre alt, glücklich verheiratet, hast zwei kleine Kinder und eine Arbeit, die du liebst, eine große Familie in der Nähe und lebst in jenem Land, in dem du aufgewachsen bist. In einer Stadt mit über einer Million Einwohnern, die sich dennoch nie zu groß oder fremd angefühlt hat. Eines Tages, nach vielen Jahren des Krieges, schaffst du es nicht mehr, dir einzureden, dass der Krieg bald vorbei ist. Dir wird bewusst, dass dieses Leben, das du kennst und schätzt, vorüber ist. Entweder ihr sterbt hier, sterbt auf der Flucht oder schafft es nach Europa in ein sicheres Land. Viel mehr „entweder oder“ gab es nicht, als mein Mann und ich vor sechs Jahren darüber diskutierten, wie es mit unserer Familie weitergehen soll. Schließlich überwog der Glaube an eine bessere Zukunft, als wir Syrien verließen – mit einem dreijährigen und einem fünfjährigen Kind im Schlepptau.

Über die Flucht möchte ich nicht sprechen. Das ist ein Abschnitt meines Lebens, den ich in der Vergangenheit belassen möchte, jedoch war das Ankommen nicht viel einfacher als der Weg hierhin. In Braunau gelandet, folgte der Kulturschock. Es war alles anders. Die Menschen, die Häuser, die Landschaft. Ich blickte hinauf zu den Altbauten im Stadtzentrum mit ihren Spitzdächern und fühlte mich verloren. Ich kannte derartige Dächer nur aus Zeichentrickfilmen und Dokumentationen. In Syrien gibt es so eine Architektur nicht. Dort sind alle Hausdächer flach, das Klima warm, die Gassen und Gärten voller Leben. Hochzeiten mit tausend Gästen und Besuche von Dutzenden Familienangehörigen sind in meiner Heimat keine Seltenheit. Diese menschliche Wärme fehlte mir anfangs und ich fühlte mich einsam. Wir lebten monatelang im Asylheim, ohne Dolmetscher, ohne Perspektive. Mit Kurdisch, Arabisch und Französisch kam man in Braunau nicht weit. Wenn ich also Behördenwege zu erledigen hatte, war das Smartphone mein Übersetzer. Meine Kinder waren damals oft krank, also war ich Dauergast bei Dr. Pichler (Gott hab ihn selig). Er war ein besonders freundlicher und hilfsbereiter Arzt, mit dem ich mich mit Händen und Füßen und Google Translate verständigt habe, aber dank seiner Geduld hat es stets geklappt. So lebten wir tagein tagaus, bis Margit Stangl in unser Leben getreten ist. Für mich ist sie ein Engel, denn sie hat nicht nur mir, sondern vielen anderen weiblichen Neuankömmlingen Hoffnung gegeben. Sie hat uns motiviert und uns im wahrsten Sinne des Wortes eine Stimme gegeben. Sie hat uns eine Sprache beigebracht, die weit entfernt ist von unserer Muttersprache, und das tat sie mit viel Feingefühl und Empathie. Hinzu kamen Traudi Krenn und andere gute Seelen, dank denen ein Großteil der Frauen, die 2015/16 angekommen sind, nun berufstätig ist. Bald wurde der Frauentreff ins Leben gerufen und wir haben uns an verschiedenen Orten in Braunau getroffen. Zu Beginn war ich nur Besucherin, doch schnell habe ich begonnen mitzuorganisieren, weil er mir am Herzen lag. Nicht nur der Frauentreff, sondern auch die Menschen, die involviert waren, wie zum Beispiel Daniela Auer und Nina Hofmann, ohne die im ZIMT (Zentrum für Interkulturalität, Miteinander und Teilhabe) nichts gehen würde. Jenem ZIMT, in dem ich mich zu Hause fühle.

Mit so viel mentaler Unterstützung habe ich die Zähne zusammengebissen und die B2-Prüfung ohne vorherigen Kurs abgelegt und bestanden. Mit einem Baby und zwei Kindern war der Besuch von Sprachkursen ohnehin so gut wie unmöglich. Weil es mit dem Erlernen der neuen Sprache bergauf ging und ich Fuß gefasst hatte, habe ich beschlossen, mich beruflich zu verwirklichen. Viele glauben, dass Flüchtlinge in ihrem Heimatland nur einfache Jobs ausgeübt haben. Weit gefehlt! Ich habe in Aleppo Handel und Wirtschaft studiert und in meiner Heimatstadt als Steuerberaterin gearbeitet. Meine große Schwester, die mittlerweile als Leiterin des Finanzamts arbeitet, ist für mich immer ein Vorbild gewesen und hat mich mit ihrer Leidenschaft für diesen Bereich angesteckt. Ich war glücklich mit meinem Job und hätte mir nie ausmalen können, eines Tages auswandern zu müssen… Aber hier bin ich. Natürlich habe ich mit dem Gedanken gespielt, auch in Braunau in diese Richtung zu gehen. Gleichzeitig hegte ich den Wunsch, mehr Zeit für meine Familie zu haben. So kam ich auf die Idee, eine Ausbildung zur Kindergartenhelferin anzufangen. Neben dem Praktikum in einem Braunauer Kindergarten besuchte ich Kurse am BFI. Das tat ich mit mittlerweile drei Kindern. Das war alles andere als einfach, aber ich habe das Glück, mit einem modernen Mann verheiratet zu sein, der mich unterstützt und mit mir an einem Strang zieht, weil ihm mein Glück am Herzen liegt. Dafür bin ich ihm sehr dankbar.

Die Arbeit als Kindergartenhelferin erfüllt mich, weil der Alltag mit Kindern abwechslungsreich ist und wir viel singen und tanzen. Das erinnert mich an meine Heimat Kurdistan. Es gibt dort keine Familie, in der nicht zumindest ein Angehöriger ein Musikinstrument spielt oder singt. Ich bin stolz auf meine kurdischen Wurzeln. Ich koche und backe viel nach den dortigen Rezepten, weil ich mir so einen Teil meiner Identität bewahre. All das wird immer ein Teil von mir sein, aber mein Zuhause ist jetzt hier, neben Menschen wie Margit, Traudi, Nina, Daniela und anderen, die mich an das Gute in den Menschen glauben lassen. Wir haben in den vergangenen sechs Jahren mit viel Einsatz auch viel erreicht, doch die größte Herausforderung steht uns noch bevor: die Erziehung unserer Kinder, für die ich mir wünsche, dass sie in einem Österreich aufwachsen, in dem ihnen alle Türen offenstehen, wenn sie nur hart genug an sich arbeiten. In einem Österreich, in dem sie nie Rassismus erfahren müssen und in dem Menschen, die aus anderen Ländern kommen, nicht als Gefahr, sondern als Chance wahrgenommen werden. 

erschienen in: Braunauer Stadtnachrichten 199, März 2023