Talent und Wissen schützen nicht vor hochgekrempelten Ärmeln

Srđan Dragović

Srđan Dragović (32), Projektleiter-Mechatronik bei AMO in St. Peter, aus Serbien, in Österreich seit 2015

Da stand ich mit meinen Koffern und den wenigen Habseligkeiten, die man als Student im Laufe der Zeit anhäuft. Die Wohnung gekündigt, die Brieftasche leer, bis auf 300 Serbische Dinar (umgerechnet 2,50 Euro). Die Prüfung sollte mich 250 kosten. Ich wusste also, dass mir für die Busfahrkarte nachhause nichts übrig bleiben würde. Ich versuchte, diesen Gedanken aus meinem Kopf zu verscheuchen. Ich gab trotz allem mein Bestes, bestand die Prüfung und schloss damit mein Studium ab. Eigentlich ein Grund zur Freude, doch nach der Prüfung musste ich wieder dem Ernst des Lebens ins Auge blicken. Wie um Himmels Willen sollte ich jetzt nach Hause kommen? 

Ich wuchs in einer kleinen Stadt in der Nähe von Novi Sad in Serbien auf. Ich war das einzige Kind meiner Eltern, und so lange ich denken kann, haben sie Tag und Nacht gearbeitet, um uns ein halbwegs komfortables Leben zu ermöglichen. Bei einem Durchschnittseinkommen von 200 Euro war das schwierig. Als dann auch noch mein Vater seine Arbeit verlor, musste meine Mutter bis zu drei Jobs annehmen, um uns über die Runden zu bringen. Wenn ich gefragt wurde, ob ich noch Geld hätte, antwortete ich immer mit "ja, natürlich". Das tat ich vor allem aus Scham, weil ich wusste, wie schwer es die beiden hatten. Ich weiß demnach nur zu gut, wie es sich anfühlt, wenig zu haben, Brot vom Vortag zu kaufen und sich aufs Nötigste zu beschränken. 

Darum habe ich versucht, mich durch Bildung von diesem Schicksal loszulösen. Ich besuchte die Handelsschule und studierte Mechatronik an der Universität für Technische Wissenschaften in Novi Sad. Ich absolvierte meinen Bachelor und Master und fand schnell Arbeit als Abteilungsleiter in einem Unternehmen für CNC-Maschinen. Eigentlich war die Arbeit nicht schlecht und die Bezahlung war in Ordnung, aber eine Sache machte mir zu schaffen: die Korruption im Land, die selbst der einfachste Mitarbeiter zu spüren bekam. Ich arbeitete dort zwei Jahre lang, heiratete und traf schließlich den Entschluss, meiner Familie, die wir damals planten, eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Ich bewarb mich übers Internet an mehreren Orten in Österreich. Innerhalb von nur einer Woche bekam ich die ersten Einladungen für Bewerbungsgespräche. Im Grunde waren es nur Unternehmen in kleineren Städten, weil wir uns ein Leben in einer Großstadt nicht vorstellen konnten. Von allen gefiel uns Braunau am besten, und auch die Konditionen rund um die angebotene Stelle passten. 

Angekommen in Österreich lernte ich, mich zurechtzufinden. Ich hatte großes Glück, dass mir AMO bei der Wohnungssuche half und meine Deutschkurse finanzierte. Das motivierte mich zusätzlich, die Sprache zu lernen. Zu Beginn verständigten wir uns auf Englisch, aber da ich vorhatte hier zu bleiben, wusste ich, dass Englisch nur eine Zwischenstation war. Ich setzte mir ein ambitioniertes Ziel: Deutsch innerhalb von fünf Jahren so gut zu erlernen, dass ich es fast wie Serbisch beherrsche. Da bin ich nun. Vor zwei Jahren habe ich eine Prüfung auf C2-Niveau (Fast-Muttersprachler bzw. Upper Advanced) abgelegt, und auch der berufliche Aufstieg blieb nicht aus. Ich startete als Entwicklungsingenieur für Mechatronik und bin heute Projektleiter. In dieser Funktion habe ich viel Verantwortung, aber ich bin auch sehr zufrieden, weil die Kommunikation im Unternehmen passt, ich viele internationale Bekanntschaften mache und mein Netzwerk erweitere. Braunau als Stadt gefällt uns gut, weil es hier viele Spielplätze für unsere zwei Kinder gibt. Meine Frau hat ein Recht auf Mutterschutz und Karenz, was in Serbien nicht der Fall ist. Abgesehen davon sind wir zwei Gourmets, die Kaiserschmarrn, Germknödel und allen voran Leberkäsesemmel lieben, als wären sie unsere Erfindung. Gut, dass meine Frau gerne kocht und mich mit den Spezialitäten der österreichischen Küche verwöhnt. 

Serbien besuche ich ein bis zwei Mal jährlich, aber wie bei vielen Menschen vom Balkan, die hier leben, merke ich jedes Mal, wie weit ich mich von meiner alten Heimat entfernt habe. Ich war 2007 der Erste aus Mathematik in Serbien, 2012 der landesweit Vierte in Robotik und 2013 der beste Student meines Jahrgangs. Ich bin zudem Mitglied bei MENSA. Das ist das größte Netzwerk für hochbegabte Menschen in Deutschland mit weltweit über 145.000 Mitgliedern. Mitglieder müssen einen höheren Intelligenzquotienten (IQ) als 98 Prozent der Bevölkerung haben, also einen Wert über 130. Das klingt toll, nicht wahr? Das ist es auch, aber all das bringt dir nichts, wenn du in einem Land lebst, in dem die Gegebenheiten nicht passen. Deine Wünsche, Ziele und Ambitionen gehen einfach unter…

Damit gehe ich zurück zur Frage, wie ich damals nach der Prüfung eigentlich nach Hause gekommen bin. Ich bat einen Freund, auf seiner Arbeitsstelle auszuhelfen. Ich schuftete von 6 Uhr morgens bis 6 Uhr abends und verdiente mir so den Betrag, den ich für die Busfahrkarte benötigte. So tat ich es immer im Leben. Wenn etwas nicht passte, habe ich nicht gejammert, Schuldige gesucht oder mein Schicksal verflucht, sondern es passend gemacht. Egal wie talentiert und intelligent du bist: wenn du im Leben erfolgreich sein willst, wirst du nicht drum herumkommen, deine Ärmel hochzukrempeln. Darum genieße ich das Leben, das ich nun führe. Ich bin unabhängig von politischen Einflüssen, habe einen Job, den ich mag, und lebe ein Leben in Sicherheit. Davon können die meisten Menschen am Balkan nur träumen. Das verdanke ich meiner Durchsetzungsfähigkeit, aber auch diesem Land und der Stadt Braunau, die mir so viele Möglichkeiten geboten haben. 

Meine Geschichte soll zeigen, dass der junge Mann, der früher Brot von gestern gekauft hat, heute der Mann mit einer Zukunft ist. Nur deswegen, weil er an sich geglaubt hat, und ich hoffe, dass ich damit andere junge Menschen dazu motivieren kann, etwas aus sich zu machen.

erschienen in: Braunauer Stadtnachrichten 196, Juni 2022