Ich bin der Perser Ihres Vertrauens

Sina Ashka

Sina Ashka (34), aus dem Iran, Assistenzarzt auf der Chirurgischen Abteilung im Krankenhaus St. Josef Braunau, in Österreich seit 2016

Es ist das Paradies auf Erden. Ein Land mit vier Jahreszeiten, die nebeneinander bestehen. Dort ist es kein Ding der Unmöglichkeit Ski zu fahren und im Anschluss auf Safari zu gehen. Geschmackvoll eingerichtete Häuser und gepflegte Anlagen prägen das Straßenbild. Wunderschöne und selbstbewusste Frauen spazieren die Straßen entlang. Frauen, die nicht um den erstbesten Mann wetteifern, sondern ihre Karriere fest im Visier haben. Sie denken jetzt womöglich an ein europäisches Land, doch das ist der Iran im Jahr 2022. 

Wenn ich mit meinen Mitmenschen Gespräche über mein Heimatland führe, endet das mit viel Verwunderung darüber, dass dieses riesige Land aus der Sicht eines Persers ganz anders ist, als sie es aus den Medien kennen. Die meisten verbinden den Iran mit Khomeini, dem Kopftuch und Sanktionen. Was viele nicht wissen, ist, dass der Iran zu den Ländern mit der höchsten Quote an Akademikerinnen und Akademikern zählt. Bildung kostet quasi nichts, denn Studium und Wohnung finanziert der Staat. Keine Bildung kostet hingegen schon, denn bricht man das Studium ab, muss man mit einer Strafe in der Höhe von 100.000 Euro rechnen. Da überlegt man es sich gründlich, ob man diesen Schritt wagt. Trotz der hohen Quote sind allein in den vergangenen drei Jahren über 4.000 Ärztinnen und Ärzte sowie insgesamt 300.000 Akademikerinnen und Akademiker ausgewandert. Dieser sogenannte „brain drain“ oder „das intellektuelle Ausbluten“ hat verschiedene Gründe. Einer betrifft das strenge politische System, das einige ablehnen, der andere die Arbeitsbedingungen. Diese sind in einigen Bereichen, wie der Medizin, nicht die besten. Daher entschließen sich insbesondere junge Menschen dazu, ungeachtet der guten Bezahlung und des niedrigen Steuersatzes ihre Heimat zu verlassen. Bei vielen ist es wohl auch der Wunsch, die Welt da draußen kennenzulernen. 

Ich stamme aus Lahidschan, einer Stadt im Nordwesten des Iran mit 100.000 Einwohnern, und einer Familie mit langer akademischer Tradition. Mein Großvater zählte zu den ersten fünf Studierenden, die ein Auslandsstipendium bekamen. So bereiste er die Welt und studierte unter anderem Bauingenieurswesen in Deutschland. Mein Vater war Chirurg, meine Mutter Juristin und meine Schwester ist Gynäkologin. Bildung hat demnach in unserer Familie einen hohen Stellenwert. Auch finanzielle Probleme hatten wir dank der Position meines Vaters keine. Wieso verlässt man also ein Land, in dem man es eigentlich gut hat? Die Betonung liegt auf „eigentlich“. Jedes Jahr melden sich im Iran rund 500.000 Menschen zur Aufnahmeprüfung für das Medizinstudium an. Nur ein Bruchteil davon schafft es, sich einen Studienplatz zu sichern. Da ich ohnehin immer im Ausland studieren wollte, entschied ich mich dazu, einen anderen Weg zu gehen und auf einer Partneruniversität in Europa Medizin zu studieren. Ich habe also mein Medizinstudium in englischer Sprache absolviert und Deutsch nebenbei durch Praktika und Famulaturen in Deutschland und Österreich gelernt. 

Nach dem Uniabschluss bin ich nach Österreich gezogen, wo ein Teil meiner Familie lebt. Rückblickend betrachtet war das eine gute Entscheidung, da die Arbeitsbedingungen mit jenen im Iran nicht zu vergleichen sind. In meiner Heimat ist es üblich, fünfzehn 36-Stunden-Dienste im Monat zu absolvieren. In den Krankenhäusern, die größentechnisch kleinen Städten ähneln, ist es gang und gäbe, einer strikten Hierarchie zu folgen, auch wenn das Verhältnis unter den Ärzten sehr kollegial und höflich ist. Als Arzt kannst du während deiner Laufbahn zwischen zwei Übeln wählen. Entweder du erkrankst irgendwann an Burnout (was fast alle tun) oder dich erreicht ein Herzinfarkt. Zweiteres war bei meinem Vater der Fall, der seine Gesundheit für die Medizin geopfert hat (wie paradox, nicht wahr?) und mit nur 58 Jahren von uns gegangen ist. Er hat bei vielen Menschen einen bleibenden Eindruck hinterlassen, weswegen unvorstellbar viele seiner ehemaligen Patientinnen und Patienten zu seiner Beerdigung gekommen sind. Dennoch, nichts kann mir meinen Vater wieder zurückbringen. 

Darum habe ich für mich beschlossen, dass ich ein ausgeglichenes und erfüllteres Leben führen möchte, und das habe ich hier in Österreich gefunden. Natürlich vermisse ich meine Heimat, insbesondere das Essen. Lahidschan ist als Stadt, durch ihre Nähe zum Meer, bekannt für ihre Küche, die viel Gemüse, Fisch und besondere Gewürzmischungen beinhaltet. Sie ist Teil der einstigen Seidenstraße, die berühmt war für Seide, Tee, Reis und Kaviar. Ich verarzte mein Heimweh nun, indem ich oft in den Iran fliege. Dort esse ich mich satt an den wunderbaren Speisen und der Gastfreundlichkeit der Menschen, die weltweit einzigartig ist. Zurückkehren kommt für mich derzeit nicht in Frage, aber ich bin ohnehin der Meinung, dass ein Mensch viele Orte sein Zuhause nennen kann. Ich habe über Umwege und mit viel Einsatz meinen Traum verwirklicht und dabei eine neue Heimat gefunden. Ganz im Sinne des persischen Arztes Avicenna (Ibn Sina), nach dem ich übrigens benannt wurde. Er pflegte zu sagen: „Laufe in Sandalen, bis dass dir die Weisheit Schuhe einbringt“. So ist es auch im Leben. Der Weg ist nie geradlinig und einfach. Manchmal müssen wir auch Opfer bringen auf der Reise zum Ziel, aber es lohnt sich in vielerlei Hinsicht, immer. 

erschienen in: Braunauer Stadtnachrichten 197, September 2022