Ich arbeite da, wo das Leben beginnt…

Dr. Teuta Musliu Asani

Dr. Teuta Musliu Asani (50), Stationsärztin auf der Abteilung für Gynäkologie und Geburtshilfe im Krankenhaus St. Josef Braunau, aus dem Kosovo, in Österreich seit 2000

Er war ein gläubiger, bodenständiger und im Vergleich zu seinen Altersgenossen recht moderner Mensch. Mein Vater hat mich gelehrt, dass man im Leben am Boden zerstört sein kann, dass man verlieren und verzweifeln kann, aber sein Ziel nie aus den Augen verlieren darf. Er glaubte fest ans Schicksal und daran, dass alles Gute, was wir geben, auf irgendeine Weise zu uns zurückkommt. "Jetzt denkst du, dass deine Wahl ein Fehler war, aber bald wirst du erkennen, dass dich diese Erfahrungen für das vorbereiten, was deine Berufung ist". Das waren seine letzten Worte, die ich immer im Herzen tragen werde.

Meine Geschwister und ich wuchsen im Kosovo auf, in der Hauptstadt Priština. Im Jahr 1998 brach im Kosovo Krieg aus und wir flüchteten in die Schweiz. Wir verbrachten die Zeit bis zum Ende des Krieges dort und gingen danach wieder zurück in die Heimat. Mein Vater, der vor dem Krieg Albanisch studiert und als Professor und Dolmetscher gearbeitet hatte, konnte sich nicht so recht mit dem Gedanken anfreunden, in der Schweiz zu bleiben. Wir versuchten also alle, das Beste aus der Situation zu machen. Ich für meinen Teil inskribierte Medizin und studierte bis zum dritten Abschnitt. Bald ergab sich die Möglichkeit, in Graz weiterzustudieren, da es eine Kooperation zwischen den Medizinischen Universitäten in Graz und Priština gab. Mein jetziger Ehemann war der erste, der diese Gelegenheit nützte und in Graz Medizin studierte. Bald darauf folgte ich ihm. 

In Graz kamen wir bei einer Sportwissenschaftlerin unter. Wir lebten in ihrer Dachgeschoßwohnung und zahlten eine kleine Miete. Im Gegenzug kümmerte ich mich um ihre Tochter und mein Mann hielt den Garten in Stand. Studierende aus Nicht-EU-Ländern mussten damals die doppelten Studiengebühren bezahlen und hatten nur Anspruch auf eine geringfügige Tätigkeit. Damit musste man sich sein Studium finanzieren. Darum hielten wir uns mit Hilfsarbeiten über Wasser und kämpften mit dem Studium. Ein Semester lang lernte ich Deutsch, und als die erste Prüfung aus medizinischer Psychologie bevorstand, sah ich ein halbes Jahr lang nichts anderes als medizinische Fachbücher. Es war eine der schwierigsten Phasen meines Lebens – das dachte ich zumindest. 

Es gab damals die Regelung, dass man nach fünf Jahren Aufenthalt in Österreich die österreichische Staatsbürgerschaft beantragen konnte. Im Jahr 2006 kam mein Sohn zur Welt, da war ich bereits seit über fünf Jahren hier. Zudem hatte ich mein Studium abgeschlossen und lag in der Schwebe, zumal ich keine Studentin mehr war und einen Aufenthaltstitel brauchte. Ich versuchte also mein Glück bei der Behörde. Mir wurde gesagt, dass erst vor wenigen Wochen ein Gesetz in Kraft getreten war, welches besagt, dass aktuell zehn statt fünf Jahre Aufenthalt für eine Staatsbürgerschaft notwendig sind. Nun standen wir da, mit einem Baby, aber ohne Visum. Da wir aus keinem EU-Land kamen, hatte ich kein Recht, in Österreich den Turnus zu machen. Ich nahm einen Job in der Gastronomie an. Mein Mann kümmerte sich ums Kind. Nach weiteren anderthalb Jahren probierte ich es wieder. Immerhin war ich fleißig, hatte mein Studium in der Tasche und verdiente Geld. Der damalige Beamte wimmelte mich ab: "Nein, Frau Doktor, mit diesem Verdienst bekommen Sie nie die Staatsbürgerschaft." Ich brach weinend zusammen. 

Als nach zwei Jahren unsere Tochter auf die Welt kam, musste ich weitere Jobs annehmen, um die mittlerweile vierköpfige Familie zu versorgen. Unterstützung und Beihilfen vom Staat – Fehlanzeige. Ich arbeitete als Sozialarbeiterin für "Frau für Frau", als Dolmetscherin und in der Gastronomie. Irgendwann hat mein Mann sein Studium abgebrochen, weil er mit den Kindern alle Hände voll zu tun hatte. Das bereuen wir heute beide, aber die damalige Situation war für uns alle schwierig und bot keine Alternative. Nach weiteren fünf Jahren und der Tatsache, dass plötzlich ein Ärztemangel in Österreich herrschte, versuchte ich es wieder. Mir wurde gesagt: "Frau Doktor, Sie hätten auch ein Jahr vorher kommen können." Ich lasse das nun unkommentiert. Schlussendlich bekamen wir die Staatsbürgerschaft und ich zugleich das Recht, meinen Turnus zu absolvieren. 

Über Umwege fanden wir nach Braunau und ich begann auf der Unfallchirurgie. Weil ich jahrelang nicht im medizinischen Bereich arbeiten konnte, war der Anfang besonders hart. Die Arbeit war so anstrengend, dass ich innerhalb kürzester Zeit zehn Kilo abnahm und mit Schlafproblemen zu kämpfen hatte. Wenn ich meinen Kollegen bei der Arbeit zusah, war ich felsenfest davon überzeugt, dass ich das nie schaffen werde. Nur Gott weiß, wie ich diesen Lebensabschnitt psychisch und körperlich überstanden habe. Mit viel Hilfe und Geduld von meinen Kolleginnen und Kollegen klappte es aber irgendwann und mir machte die Arbeit auf der Unfallchirurgie sogar Spaß. Als ich nach einiger Zeit die Möglichkeit hatte, eine Facharztstelle anzutreten, wurde mein Vater schwer krank und mir wurde alles zu viel. Ich wollte mir nicht noch mehr Druck auf die Schultern laden und lehnte ab. 

Heute bin ich seit über zehn Jahren in Braunau, habe hier eine neue Heimat gefunden und arbeite als Stationsärztin auf der Gynäkologie. Ich mache meine Arbeit sehr gern. Eine mittlerweile pensionierte Hebamme sagte einmal zu mir: "Du musst Gynäkologin werden, weil du ein Feingefühl für Frauen mitbringst." 

In der Zeit, als ich als Sozialarbeiterin tätig war, lernte ich die Albanerin Violeta kennen. Sie hatte einen fünfjährigen Sohn und kämpfte mit Brustkrebs. Sie war eine gute Freundin für mich und ich begleitete sie bis zum Ende. Wir tranken jeden Kaffee zusammen und sprachen über Gott und die Welt. Als sie starb und ich ihren kleinen Sohn in den Armen hielt, fühlte ich mich, als wäre ein Teil von mir gestorben. Heute denke ich oft an sie und weiß, dass es diese Momente sind, die mich geformt haben und mir das Feingefühl und die Empathie beschert haben, die ich in meiner Arbeit brauche. Zugleich haben sie mich demütig und dankbar gemacht. Titel zu haben ist toll, Geld zu haben ist super, aber Mensch zu sein und trotz allen Hindernissen und Ungerechtigkeiten im Leben sein Herz am rechten Fleck zu tragen – unbezahlbar. 

erschienen in: Braunauer Stadtnachrichten 195, März 2022