Das Glück ist auf der Seite der Mutigen

Katalin Lenner

Katalin Lenner (33), Bürokauffrau/Assistentin bei GIA Austria GmbH, aus Ungarn, in Österreich seit 2013

Meine Heimat Ungarn ist ein Eldorado für Kulturbegeisterte. Das Land vereint westliche und östliche Einflüsse und ist übersät von Bauwerken der Römer, Denkmälern der Türken und mittelalterlichen Kirchen und Schlössern. Überall berichten Museen von der spannenden Vergangenheit Ungarns. Folglich könnte man annehmen, dass es den Menschen in so einem Land hervorragend geht. Leider sieht man als 08/15-BürgerIn von diesem kulturellen Reichtum am Ende des Monats nichts, zumindest nicht auf dem Bankkonto. Die Löhne sind so gering, dass sie oftmals gerade so reichen, um die Miete zu decken. Wer also nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag bei den Eltern wohnen und sich etwas Freiheit gönnen will, muss entweder besonders kreativ werden oder den Zug ins Ungewisse nehmen. 

Ich wuchs in einem 1.200-Seelen-Dorf in der Nähe der kroatischen und slowenischen Grenze auf. Ein Dorf, in dem jeder jeden kennt und alle dieselben Sorgen teilen. In den vergangenen Jahren haben viele junge, zumeist gut ausgebildete Menschen das Land verlassen. Wer es sich finanziell leisten konnte, ist ausgewandert, um sich in Österreich oder Deutschland eine neue Existenz aufzubauen. So ein Vorhaben ist finanziell alles andere als leicht zu stemmen, doch schlussendlich lohnt es sich für die meisten. Das hat es auch für mich, und zwar in vielerlei Hinsicht. Vor sieben Jahren besuchte ich ein befreundetes Ehepaar in Braunau, und es ergab sich die Möglichkeit, nach Österreich zu ziehen. Mir gefiel es hier und ich dachte mir, wie ein altes ungarisches Sprichwort so schön sagt: "Das Glück ist auf der Seite der Mutigen". Ich hatte nichts zu verlieren und wagte den Weg in ein unbekanntes Land. Meine Eltern und Geschwister unterstützten meine Entscheidung. Sie wussten, dass die wirtschaftliche Zukunft Ungarns nicht rosig aussah, und wünschten sich für mich ein besseres Leben. Angekommen in Braunau, dauerte es nur wenige Wochen, bis ich eine Arbeit bekam. Eigentlich bin ich ausgebildete Englischlehrerin und Kulturmanagerin. In Österreich arbeitete ich drei Jahre lang in der Produktion in einem großen Industriebetrieb. 

Mein Deutsch war nicht das beste, zumal ich nur Grundwissen aus der Schule in Ungarn mitbrachte, doch ich absolvierte etliche Deutschkurse und verbesserte mich stetig. Viele der Kurse hielt Eva-Maria Hruby-Lehner ab. Mit ihrer freundlichen und offenen Art ist sie eine wahre Inspiration, und es macht Spaß, mit ihr zu lernen. Insbesondere der Dialektkurs war ein großer Erfolg und zugleich Balsam für meine Migranten-Seele, die nicht allzu selten nur "Bahnhof" statt "feigeln", "drawig" und "voi" verstand. 

Weil ich mir eine Ausbildung hierzulande in deutscher Sprache wünschte und mich weiterentwickeln wollte, kam ich zur ALU-Stiftung. Evelyn Hager hat mich bei meiner Ausbildung zur Bürokauffrau unterstützt und mir zu einem Bewerbungsgespräch bei meinem jetzigen Arbeitgeber verholfen. Mittlerweile arbeite ich seit drei Jahren bei GIA Austria und bin sehr zufrieden. Mir ist aufgefallen, dass es eine Eigenschaft gibt, die Österreicher besonders schätzen, und das ist Wissensdurst. Wer lernen will, wird immer auf offene Ohren und Hilfsbereitschaft stoßen. Darum bin ich bemüht, mich laufend zu verbessern. Ich bin der Ansicht, dass man so auf Veränderungen schneller reagieren kann, flexibler und als Arbeitskraft wertvoller ist. Deshalb habe ich erst vor Kurzem eine Ausbildung zur Qualitätsbeauftragten gemacht. Wer sich etwas aufbauen möchte, muss es nur wollen. In Ungarn ist das nicht so. Darum ist es für mich nicht selbstverständlich, dass ich nun auch am Ende des Monats genug Geld zum Leben zur Verfügung habe. Dieses Gefühl von Sicherheit lässt mich ruhiger schlafen als zuvor, und ich kann daran arbeiten, meine Träume zu verwirklichen, anstatt von heute auf morgen zu leben und mir den Kopf über die Zukunft zu zerbrechen. 

Meinen Mann, ebenfalls gebürtiger Ungar, lernte ich in Braunau kennen. Wir haben nicht viele Hobbys, weil uns die Zeit dazu fehlt, aber eines machen wir oft und gerne: Wir wandern, campen und reisen durch Österreich, weil es so viele schöne Orte zu bieten hat und man die Seele baumeln lassen kann. Darum kommt bei mir Heimweh nur selten auf. Manchmal vermisse ich die Kultur meiner Heimat. Die temperamentvolle Musik, die gute Küche und die vertraute Sprache – doch immer, wenn ich gerade in Ungarn war und wieder österreichischen Boden betrete, denke ich mir: "Ah, endlich daheim". Österreich ist zu meinem Zuhause geworden, auch wenn ich mit meiner Identität irgendwo dazwischen stehe. Ich bin noch nicht lange genug hier, um Österreicherin zu sein und zugleich zu lange fort aus meiner einstigen Heimat, um mich Ungarin zu nennen. Doch was, wenn man sich gar nicht entscheiden muss? Das Leben ist ja auch kein Schwarz-Weiß-Film. Vielleicht bin ich eine der bunten Facetten dazwischen. Das Wichtigste ist schlussendlich ohnehin, sich selbst treu zu bleiben und aus seiner Komfortzone zu treten. Hätte ich damals gezögert, hätte ich keine neue Heimat gefunden.  

erschienen in: Braunauer Stadtnachrichten 189, September 2020